Vorlage für die 4 Bilder ist eine Aufnahme bei den Rheinhäfen, Basel
Ich konnte nicht anders als mit offenem Mund, offenen Augen und einer ”camera obscura” eine Aufnahme machen. Es war so ein Moment der Rührung, den du einfach nicht spurlos an dir vorbeiziehen lassen kannst. Fünf Jungen, die munter drauflos marschierten mit irgend einem Ziel vor Augen. Junge Menschen im alltäglichen Chaos unserer geschäftigen, röhrenden und gestressten Welt – wie hoffnungsvoll !
Das genaue Jahr weiss ich nicht mehr, aber unser Sohn muss erst kürzlich zur Welt gekommen sein und wir lebten mit Freunden in einer WG im Paulusquartier. Da gab’s auch ein Fotolabor im Keller und ich probierte dies und jenes aus: Hart – weich – hell – dunkel – doppelt gespiegelt und verkehrt. So entstanden die vier Bildchen.
( zu 2, Spiegelung)
Ob das Zufall war oder Absicht: Unten unscharf, dunkel und hart. Oben im Himmel die Spiegelung, leicht, ätherisch, irgendwie unwirklich aber präzis. Sieht man denn tatsächlich die Wirkichkeit aus der Distanz genauer? Die Wirklichkeit der Welt auf den Kopf gestellt in einem anderen, vielleicht ”wirklicheren” Licht?
( zu 3, Zeichnung auf Fotokopie)
Au ja, das waren die siebziger Jahre: Alles umkrempeln, eine andere Welt entdecken! Es spriesst und brodelt und drängt. Los, nur los und alles neu und gut machen! Ein gutes Gefühl war das! Ob solch wildes Grünen und Wachsen auch morgen noch gut sei, interessierte nicht. Nur seltsam, wie das ungezügelte Wachstum dann plötzlich gespenstisch erschien. Die Revolution blieb dann aus, das (ökonomische) Wachstum blieb – und wurde Pflicht.
(zu 4, Collage)
Man müsste das ganze Chaos rund um die zuversichtlich und selbstverständlich dahin marschierenden fünf Jungen einfach ausklammern! Ihre Visionen schützen! Aber – hatten sie denn tatsächlich welche? Bestimmt! Die sind noch so jung! Die haben noch Mumm! Die haben doch Ideen! Aber sie sind auch verletzlich. Man muss ihre Visionen und Ideale vor der Banalisierung schützen, sonst kommt’s so wie immer… !
Ach, wie war doch damals die Welt im Aufbruch! Und ich ging schon gegen die vierzig. Gehörte schon nicht mehr recht dazu. ”Trau keinem über dreissig!” warnte man. Tatsächlich war ich weder ein Anhänger von Rudi Dutschke noch ein Maoist und auch kein Baghwani. Und lasse mich doch immer wieder ganz gern von Visionen überwältigen. Ist das lächerlich, naiv, dumm, ja gefährlich? Darf man sich von Gefühlen, auch wenn sie noch so schön und positiv aufscheinen, die Besinnung rauben lassen? Nein. Gerade indem ich das Unglaubliche darstelle, bin ich ihm nicht mehr ausgeliefert, nehme ich Distanz. Und ist eben doch nicht nur eine Distanzierung vom Unerhörten sondern wirkliches Interesse. Orientierung in der Wirklichkeit ist nur möglich, wenn ich auch den abgefahrensten Utopien Raum gebe.
SE, Mai 2021