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PHYSIOGNOMIEN
Leo Remond’s Masken
Mit meinem Künstlerkollegen Leo hatte ich damals in den 70er Jahren auf der Strasse Bilder aufgebaut und mit ihnen gespielt. Er war maskiert, trat als Graf Zeppelin auf und ich erfand als Pendant zum Luftschiff das kosmische Spielzeug ”Saemmelskörper”. Dann trennten sich unsere Wege wieder, aber das Thema Masken liess Leo nicht los. Alle Menschen tragen Masken, mehrere sogar, auch wenn sie gar nicht darum wissen, sagte er. Mich dagegen beschäftigen weiter die Physiognomien – aber erst heute begreif ich, dass wir jeder in seiner sehr eigenen Art am selben Gegenstand arbeiteten. Bei ihm ging’s um’s Verstecken und Entlarven, bei mir um’s Entdecken und Dahinter-schauen-wollen.
Lavater und die Physiognomie
Bereits in der Ausbildung zum Lehrer hatte ich von Lavaters Physiognomik gehört. Sofort war ich davon fasziniert und studierte eifrig, was mir greifbar war. Ein Studienkollege meinte zwar bedauernd, ja fast verächtlich: Das ist ja dann doch nicht zu einer Wissenschaft geworden. Da kam die Psychologie und die konnte weder Bilder noch Lavater brauchen. Warum liess mich trotzdem diese Physiognomik, die sich mit den menschlichen Gesichtszügen beschäftigt, nicht los?
Der Künstler und seine Bilder
Und warum faszinieren mich meine Bilder und Zeichnungen aus den frühen 60er Jahren rückblickend immer noch? Warum hab ich nie aufgehört solch ”physiognomische” Bilder in den vielfältigsten Variationen zu schaffen? Wir sind ja geübt darin, jeden Punkt als Auge zu sehen. Da ist es ein kleiner Schritt, in jedem mehr oder weniger ungegenständlichen Bild Gesichtszüge zu entdecken. So lässt mich das Gefühl nicht los, das sei eine Sprache, die alle Menschen verstehen und gebrauchen. Zwar weiss ich nicht wie genau das funktioniert. Aber dass es funktioniert, ist klar. Gesichtserkennung durch Roboter ist heute schon Praxis. Und ist ja unser täglich Brot: Wir können unter tausenden von Gesichtern die uns bekannten erkennen. Und wir registrieren auch kleinste Veränderungen. Trotzdem können wir weder mit Zahlen noch mit Worten Gesichtszüge analysieren, auch wenn es unterdessen möglich ist, sie festzuhalten – wie alles, was mit einem Fotoapparat digital oder analog erfasst werden kann. Aber eine Wissenschaft lässt sich daraus nicht ableiten. Von Bildern gibt es zwar Interpretationen aber kein finales Wissen.
Wenn ich nach über einem halben Jahrhundert meine Bilder und Skizzen wieder anschaue, wundere ich mich, wie ich sie damals hervorbringen konnte, wie diese präzise Darstellung von Charakterzügen einfach so möglich war, wie sie mir sozusagen aus der Hand flossen. Auch wenn ich damals oft mit Lust irgendwelche Titel dazusetzte, wusste ich doch immer, dass vielleicht ein für viele typischer Charakterzug herausgelesen und mit Worten formuliert werden kann, dass aber immer ein offener Interpretationsraum bleibt. Das wissen wir ja auch aus der Kriminologie. Aufgrund des Gesichtausdrucks kann man nicht beweisen, dass einer ein Verbrechen begangen hat oder dass er lügt. Man kann es nur vermuten. Wie fatal und falsch solche Vermutungen sein können, haben wir zur Genüge erfahren.
Was Kunst leisten kann
Anders liegt der Fall, wenn in einem Gesicht Verletzungen sichtbar sind, die ein Arzt z.B. auf Gewalteinwirkung zurückführen kann. Aber in der Physiognomik und bei mir als Künstler geht es um Gesichtszüge, Stimmungen und Charaktereigenschaften. Es sind ja auch keine Porträts, die ich in jemandes Auftrag angefertigt hätte. Es ging mir einfach darum, vor Augen zu führen wie verschieden Menschen in Erscheinung treten. Es ging mir darum, ein wunderbar vielfältiges Bild von Menschen zu entwerfen ohne jegliche Beurteilung und Katalogisierung. Wie viele herrliche und herrische, helle und finstere, verschlossene und offenherzige Mienen sind mir doch schon begegnet! Und sie gehören alle dazu. Ich wundere mich, wie solche Gesichtszüge entstehen können und versuche, mich in Situationen versetzen, die sie möglicherweise ausgelöst haben. Ist es ein bestimmtes Umfeld? Sind kulturelle, religiöse, ökonomische, nationale Prägungen im Spiel? Ich weiss es nicht. Ich muss und will es auch nicht wissen. Aber ich kann eine unendlich reiche Vielfalt davon in Bildern darstellen. Das ist ein Spiel, ein Durchspielen von Möglichkeiten des Menschseins. Und das Spiel trainiert meine Beweglichkeit, so dass ich nicht nur verschiedenste Menschenbilder sondern über das wahrgenommene Bild auch die Vielfalt der realen Menschen entdecke.
Das ist, was Kunst leisten kann: Nicht nur sich selbst sondern auch anderen Menschen näher kommen. Ganz erstaunlich anderen, komischen, wildfremden, ungeahnten und irgendwie doch schon geahnten Welten und Menschen zu begegnen ohne sie zu beurteilen.